Stell dir folgende Situation vor: Du gehst in einen Supermarkt und möchtest durch die Tür gehen. In dem Moment kommt dir eine ältere Dame entgegen. Du öffnest ihr die Tür und lässt sie durchgehen. Sie bedankt sich und du antwortest: „Kein Problem, ist doch selbstverständlich.“
Ist doch selbstverständlich? Was bedeutet das? Gibt es Selbstverständlichkeiten überhaupt?
Ich habe den Duden gefragt. Selbstverständlich bedeutet: Etwas, was sich von selbst versteht. Das kann bedeuten, dass etwas als selbstverständlich angesehen, erwartet oder vorausgesetzt wird.
Wer oder was hat das festgelegt? Gibt es eine Norm oder eine Regel dafür?
Es gibt gesellschaftliche Regeln. Das kann zum Beispiel der Knigge sein.
Es gibt gesetzliche Regeln, wie die Straßenverkehrsordnung.
Es gibt Teamregeln. Wir haben uns verständigt, wie wir in unserem Team kommunizieren wollen.
Es gibt Blogartikelregeln, die besagen, dass jeder Blogartikel immer bis zum Ende gelesen und anschließend mit einem konstruktiven Kommentar versehen wird.
Die guten alten Familienregeln dürfen wir nicht vergessen. Eine davon ist: Wir treffen uns einmal im Monat am Sonntag bei Oma zum Kaffee.
Es gibt bestimmt noch viel mehr Regeln. Doch halten wir uns immer daran? Nein. Sind uns die Regeln alle bewusst? Nein. Das ist doch selbstverständlich, dass wir immer zu Oma Kaffee trinken gehen.
Apropos Kaffee, wie machst du deinen Kaffee? Mit einem Kaffeeautomaten – Tasse runter, Knopf gedrückt, fertig – das ist doch selbstverständlich. Viele wissen nicht mehr, wie du guten Kaffee selbst herstellen kannst. Das ist ein Beispiel dafür, dass wir viele Dinge in unserem Leben nicht mehr hinterfragen oder bewusst wahrnehmen. Es ist für uns selbstverständlich geworden. Wir merken es erst dann, wenn es nicht mehr möglich ist. Wie zum Beispiel vor zwei Wochen. Ein Wasserrohr ist in der Stadt geplatzt. Nun haben viele Menschen für mehrere Stunden kein Wasser mehr.
Corona hat uns dazu den Spiegel vorgehalten. Von einem „neuen Normal“ möchte ich erst gar nicht sprechen.
Ich möchte drei Themenfelder ansprechen, die mir besonders am Herzen liegen. Hier knirscht der Sand besonders laut: Zeit, Klarheit und Kommunikation.
Zeit
Du kennst bestimmt die Rolle des Timekeepers oder Zeitnehmers. Er oder Sie nimmt uns nicht die Zeit, sondern achtet viel mehr darauf, dass wir die Zeit einhalten. Damit gibt er oder sie uns Zeit.
Ich glaube, es steht niemanden zu, über die Zeit von anderen Menschen zu verfügen und sie einfach zu nehmen. Hierzu gibt es viele Beispiele aus dem Job.
Vielleicht kennst du folgende Situation:
Du bekommst eine Einladung zu einer Besprechung. Die einladende Person hat in euren Gruppenkalender gesehen und einfach eine Terminlücke genommen und die Besprechung angesetzt. Woher weiß der- oder diejenige, dass die Zeit wirklich verfügbar ist? Sie weiß es nicht, kann es nicht wissen. Warum nicht? Wer nicht fragt, der nicht gewinnt.
Bei mir ist es so, dass ich nicht jede Zeit verplane. Es gibt Aufgaben, die nach oder vor einer Besprechung zu erledigen sind. Manchmal brauchst du einfach Zeit, um kreativ zu sein oder etwas zu entwickeln. Das braucht Zeit. Wie viel? Keine Ahnung, deshalb steht es nicht im Terminkalender.
Wer es für selbstverständlich hält, dass jede Zeit in einem Terminkalender von anderen Personen verfügbar ist, der irrt sich. Das ist für mich nicht nur Zeit nehmen, im wahrsten Sinne des Wortes. Das empfinde ich als respektlos.
Für mich ist es selbstverständlich, einen Termin abzustimmen. Das ist mein persönlicher Wert, eine Regel. Doch das ist meine Regel. Nicht deine, nicht unsere.
In dem Fall mit dem Terminkalender hat ein Gespräch nicht geholfen. Eine andere Lösung muss her und sorgt gleichzeitig für Verwunderung. Ich habe alle Tage in meinem Terminkalender mit einem Terminblocker versehen. Damit gibt es in meinem Kalender keine Zeit, die jemand nehmen kann. Das bedeutet, dass Terminabstimmungen ohne eine persönliche Kommunikation nicht mehr funktionieren.
Ich weiß, dass Terminabstimmungen oft nervig sind. Doch ist es so schwer, sich kurz persönlich zu verständigen und eine gemeinsame Zeit zu vereinbaren?
Hier liegt doch der Unterschied: Jede Person nimmt sich die eigene Zeit für den anderen und beide Personen verbringen gemeinsam Zeit. Zeit, die hoffentlich gut und sinnvoll investiert ist. Wenn nicht, dann ist wieder genommene Zeit.
Zeit ist kostbar? Warum? Weil wir nur das eine Leben haben und damit nur diese eine Lebenszeit. Vor ein paar Tagen habe ich dazu ein tolles Video von Rene Borbonus1 gesehen. Er hatte eine Uhr um, die nur am Rande die Uhrzeit anzeigt. Diese Uhr zeigt die Lebenszeit als Countdown an. Du gibst einfach dein Geburtsdatum und Geschlecht ein. Anhand der durchschnittlichen Lebenserwartung zählt die Uhr Sekunden genau runter. Das musst du echt mögen. Keine Uhr für Angsthasen. Stell dir vor, du diskutierst gerade mit jemanden und überlegst, ob du weiter einsteigst. Du guckst auf deine Uhr und sagst „keine Zeit“. Lebenszeit ist kostbar, sie ist nicht selbstverständlich.
Meine erste Empfehlung für dich lautet:
Sieh Zeit als etwas Wertvolles und Kostbares an, was jeder Mensch besitzt. Es ist deine Entscheidung, ob und mit wem du deine Zeit teilst.
Investiere doch mal Zeit, um Klarheit zu gewinnen. Wenn du das möchtest, dann lies einfach weiter.
Klarheit
Stellt dir vor, du stimmst dich mit jemanden ab. Ihr geht auseinander mit der Aussage: alles klar. Wirklich?
Denk mal bitte an einen Baum. An welchen Baum denkst du? Bestimmt nicht an den Baum, an den ich gerade denke. Somit ist nichts klar. Meine Bitte, an einen Baum zu denken, war auch nicht klar genug formuliert. Besser wäre es, wenn ich sagen würde: Stell dir einen Tannenbaum vor, der 1,5 Meter groß ist, dunkelgrüne Nadeln hat und eine etwas krumme Baumspitze. Das ist doch schon klarer, oder? Das ist ein schönes Beispiel für Klarheit nach außen.
Klarheit geht in zwei Richtungen, nach innen und nach außen. Um nach außen klar zu sein und so zu kommunizieren, ist es wichtig innere Klarheit zu besitzen.
In dem Video mit der Uhr hat Rene Borbonus1 ein weiteres gutes Beispiel genannt. Wie war es denn vor ungefähr 10 Jahren, wenn wir am Bahnhof auf den Zug gewartet haben? Wir stehen am Bahnsteig, warten und atmen. Sonst nichts. Wir lassen unsere Gedanken freien Lauf und gewinnen Klarheit zu dem ein oder anderen Thema. … und atmen.
Wie ist es heute? Wir gehen auf den Bahnsteig, suchen uns einen Platz. Es vergehen keine 2 Sekunden und wir haben unser Smartphone in der Hand. Wir checken Mails, Facebook, Instagram oder WhatsApp-Gruppen. Die aus meiner Sicht zu einem echten Zeitfresser werden können. Sorry, an alle Fans von solchen WhatsApp-Gruppen.
Kotz nicht ins Internet
In einem Buch² habe ich die Aufforderung gelesen: Kotz nicht ins Internet. Klingt komisch, ist aber so. Was von dem, was im Internet oder in den sozialen Netzwerken steht, ist wirklich sinnvoll, wichtig und relevant? Stell dir mal die Frage, ob jede Information so wertvoll ist, dass sie ins Internet muss. Muss sie geteilt werden? Und vor allem muss sie von mir geteilt werden?
Wir werden überschüttet mit Informationen und versuchen irgendwie auf dem Laufenden zu bleiben. Ganz ehrlich? Das ist nicht möglich. Wir versuchen, zehn Dinge gleichzeitig zu machen. Früher hieß es Multitasking. Heute nenne ich es einfach nur Bullshit.
Innere Klarheit
Innere Klarheit bedeutet, sich klar zu sein, was wichtig ist. Was ergibt in der jeweiligen Situation Sinn. Was brauche ich als Person, damit es mir gut geht? Wenn es mir gut geht, kann ich für meine Familie und Freunde da sein. Wenn es mir gut geht, kann ich einen guten Job machen.
Innere Klarheit bedeutet, sich selbst zu hinterfragen und Entscheidungen zu treffen. Zehn Dinge gleichzeitig? Die Frage lautet: Was mache ich wann und überhaupt nacheinander. Ist das selbstverständlich? Leider nein. Warum nicht? Weil es vielen Menschen nicht mehr gelingt, sich Zeit für sich zu nehmen.
Langeweile
Langeweile ist für viele nicht mehr vorstellbar. Sich langweilen, musst du erst mal aushalten können. Doch Langweile ist für uns Menschen so wichtig. Warum? Wenn unser Gehirn nicht mehr mit Informationen vollgestopft wird, fängt es an Informationen zu verarbeiten, neue Verknüpfungen zu erstellen. Deshalb ist Schlafen extrem wichtig für uns.
Wenn wir uns langweilen, fühlt es sich manchmal wie ein Entzug an. Wir wollen unbedingt irgendwas machen. Gehen hin und her. Irgendwann setzten wir uns einfach hin und ruhen etwas ab.
Was machst du, wenn du in einem Thema nicht weiterkommst? Dann tue etwas komplett anderes. Helfen kann: Laufen gehen, Fahrrad fahren oder meditieren. Alles Dinge, in denen wir nicht mit Informationen überflutet werden. Nichts anderes passiert bei Langeweile. Wir verarbeiten Informationen oder wir schlafen darüber. Wir bekommen innere Klarheit.
Innere Klarheit hilft mir, klar nach außen zu sein. Was möchte ich eigentlich? Wie möchte ich meine Zeit investieren? Was möchte ich erreichen? Innere Klarheit hilft mir, klarer nach außen zu kommunizieren.
Meine zweite Empfehlung für dich lautet:
Langweil dich mal wieder. Sorge für dich und deine innere Klarheit. Hinterfrage dich selbst, vermittelst du Klarheit nach außen?
Kommunikation
Klarheit ist ein wichtiger Grundpfeiler der Kommunikation. Das ist mein dritter Punkt.
Dinge einfach machen
Mir kommt es oft so vor, dass wir verlernt haben Dinge einfach zu machen. Was ist daran so schwer? Muss alles kompliziert sein? Muss alles mit irgendwelchen Fachbegriffen oder Anglizismen ausgedrückt werden. Kein Wunder, dass wir keine Klarheit haben. Wir reden ja oft genug aneinander vorbei. Warum? Weil wir uns einfach nicht verstehen. Es ist für uns selbstverständlich. Das versteht sich doch von selbst.
Was bedeutet eigentlich gut kommunizieren? Für mich ist es zuhören, zu sehen, beteiligen, verstehen und der Wechsel der Perspektive. Fragen stellen soll ja auch ganz gut funktionieren.
In den agilen Prinzipien steht geschrieben: Die persönliche Kommunikation ist die Beste. Das ist doch selbstverständlich. Oder? Leider nicht.
Ich glaube, du kennst die Beispiele aus dem Job, in denen ein Anruf oder ein kurzes persönliches Gespräch eine Mailflut mit gefühlt hundert Kopieempfänger verhindert hätte. Sollte es nicht selbstverständlich sein, das persönliche Gespräch zu suchen, auch wenn es dafür einen Termin braucht?
Oft versetzen wir uns nicht in die Perspektive der anderen Person. „Warum antwortet der nicht? Ich warte schon drei Minuten.“ Vielleicht sitzt die Person gerade auf dem Klo, oder steht im Fahrstuhl oder kümmert sich um sein Kind. Vielleicht meditiert die Person gerade oder hat in diesem Moment einfach keine Lust, mit dir zu kommunizieren. Wir wissen es nicht. Und das ist auch gut so. Etwas Geduld kann hier behilflich sein.
kuriose Situation
Folgende kuriose Situation, die ich frei erfunden habe: Du telefonierst mit deinen Eltern nach zwei Wochen der Funkstille. Wie lautet der erste Satz?
A) Warum meldest du dich nicht? Wir haben uns Sorgen gemacht.
B) Meldest du dich auch mal wieder? (… mit einem vorwurfsvollen Unterton)
C) Schön, dass du anrufst. Wie geht es dir? (… mit einer freudigen Stimme)
Sie wissen doch nicht, warum du nicht angerufen hast. Dafür telefonierst du ja jetzt mit ihnen, um alles zu erzählen. Der Start in ein Gespräch mit einem Vorwurf ist etwas suboptimal. Hier ist der Perspektivwechsel ein wichtiger Punkt.
Wir gehen oft davon aus, dass das, was wir uns zusammengereimt haben, auf die andere Person zutrifft. Doch hier liegen wir genauso oft daneben. Wie vertraut sind wir mit den Menschen, dass wir wissen, was den anderen gerade beschäftigt?
Auch hier kann Fragen stellen wieder helfen.
Wir alle sind unterschiedlich, in unseren Erfahrungen, in unseren Werten, in unserem Verständnis. Daher ist gute Kommunikation nicht selbstverständlich.
Kommunikation ist für mich die Königsdisziplin. Du kannst mit Kommunikation viel Positives erreichen oder auch das Gegenteil.
Meine dritte und letzte Empfehlung für dich lautet:
Gute Kommunikation ist keine Selbstverständlichkeit. Das Gute ist, ich kann es, du kannst es und wir können es. Wir können lernen, an der Kommunikation zu arbeiten, um sie weiterzuentwickeln. Mit viel Klarheit und Zeit.
An dieser Stelle möchte ich dir meine Anerkennung aussprechen: Danke, dass du bis hier hin gelesen hast. Gönn dir noch etwas Zeit für das spannende Finale dieses Artikels.
Selbstverständlichkeiten
Wenn wir uns noch mal die Situation ganz am Anfang dieses Blogartikels anschauen. Du hältst einer älteren Dame die Tür auf, weil es für dich selbstverständlich ist. Wahrscheinlich lässt sich das gut mit dem Knigge oder den gesellschaftlichen Gepflogenheiten begründen. Das ist deine Sicht. Hast du dir die Zeit genommen und mit der Dame kommuniziert, um Klarheit zu haben?
Nehmen wir doch mal die Perspektive der älteren Dame ein. Sie geht auf die Tür zu und denkt: „Oh toll, eine Tür. Wieder eine gute Gelegenheit, meine Muskulatur zu trainieren. Bewegung ist in meinem Alter die beste Medizin.“ Tja, jetzt kommst du und nimmst ihr diese Chance.
Oder sie hat früher als Ingenieurin gearbeitet und ist fasziniert von dieser Tür und denkt sich: „Wie es sich wohl anfühlen wird, diese wundervolle Tür zu öffnen?“ Tja, dann kommst du und nimmst ihr diese Möglichkeit.
Was ich damit sagen möchte, ist, wir gehen mit einer Selbstverständlichkeit davon aus, dass andere Menschen unsere Unterstützung benötigen oder unsere Hilfe ungefragt annehmen wollen. Vielleicht möchte die Person selbst herausfinden und lernen, wie es geht. Ich weiß, das ist eine knifflige Situation. Mein Tipp: fragen hilft.
Nichts ist selbstverständlich
Nichts ist selbstverständlich. Der Trick dabei ist: innehalten, aushalten, durchhalten und geduldig sein.
Liebe Leserin, lieber Leser, Selbstverständlichkeiten gehören der Vergangenheit an.
Lass uns das Zusammenleben und Zusammenarbeiten leichter machen und das Getriebe wieder in Schwung bringen. Mit einer guten Prise Zeit, einer ordentlichen Portion Klarheit und mit einer Höchstdosis guter Kommunikation.
Welche Situation hast du erlebt? Ich freue mich auf deinen Kommentar.
Bleib mutig.
Falk Golinsky
Quellverweise
1 Video von René Borbonus
² Relevanz, René Borbonus, 2019, Econ Verlag
Bildquelle: all pictures by pixabay.com
2 Responses
Vielen Dank für diese interessanten Ansichten zum Thema „Selbstverständlichkeit“.
Ich habe es wirklich genossen diesen Beitrag zu lesen…und werde diesen morgen gleich nochmal lesen. Nicht etwa weil ich die Aussage(n) nicht verstanden hätte, im Gegenteil! Ich fühle mich nicht so alleine mit meinen Ansichten zu diesem Wort, welches mittlerweile inflationär ge(be)nutzt wird und „selbstverständlich“ zum erhobenen Zeigefinger in Sachen familiärer Moral geworden ist.
Dieser Beitrag hat nicht nur meinen Abend als vielmehr meine Gedanken bereichert.
Danke hierfür 🙂
Stefan
Vielen Dank Stefan für deine Gedanken zu meinem Blogartikel.
Viele Grüße
Falk