Es ist ein paar Tage her. Ich befinde mich in den letzten Minuten einer Online-Konferenz. Wir stehen noch so herum (ja, digital geht das auch) und lassen die Session ausklingen. Ein Kollege sagt: „Ich muss jetzt ganz dringend raus, die Getränke wollen sich einen neuen Weg suchen.“ Ich lache und sage „Hey, das ist dein Problem.“ Er lacht und erzählt uns noch kurz, dass er mal einen Chef hatte, der oft zu ihm sagte: „Machen sie ihre Probleme, nicht zu meinen. Wollen sie einen Rat von mir oder die Lösung? Die Lösung finden sie am besten selbst.“

Das klingt auf den ersten Blick hart. Hatte der Chef kein Bock seinem Kollegen zu helfen oder hatte er keine Zeit? Vielleicht war der Chef sehr schlau und hat damit die Kompetenzen seiner Mitarbeitenden gefördert? Da ich ihn nicht fragen kann, weiß ich die Antwort auch nicht. Das Thema beschäftigt mich dennoch seitdem.

Was ist überhaupt ein Problem? Ich frage mal bei Wikipedia nach.

Wikipedia sagt: Ein Problem nennt man eine Aufgabe oder Streitfrage, deren Lösung mit Schwierigkeiten verbunden ist. Probleme stellen Hindernisse dar, die überwunden oder umgangen werden müssen, um von einer unbefriedigenden Ausgangssituation in eine befriedigendere Zielsituation zu gelangen. Probleme treten in diversen Ausprägungen in allen Lebensbereichen und Wissenschaften auf. Um ein Problem lösen zu können, kann es sinnvoll sein, es in einfachere Unteraufgaben zu zerteilen oder auf ein bereits gelöstes Problem zurückzuführen oder die Ausgangssituation auf ungewohnte Art und Weise zu betrachten. Mehrere in einem übergeordneten kausalen Zusammenhang stehende Probleme können als Problematik bezeichnet werden.

Ok, mit der Antwort kann ich arbeiten. Lassen wir doch mal die Wissenschaft außen vor. Ich finde die Aussage „Probleme stellen Hindernisse dar, die überwunden oder umgangen werden müssen.“ sehr spannend.

Gleichzeitig offenbart uns die Aussage: „…um von einer unbefriedigenden Ausgangssituation in eine befriedigendere Zielsituation zu gelangen.“, eine ganze Menge.

Genau da liegen das Problem und die Chance.

Lass uns doch einfach mal das Wort Problem weglassen. Stell dir folgende Situation vor:

Es ist ein wundervoller Morgen im Herbst. In den frühen Morgenstunden hat es geregnet. Du ziehst dir deine Gummistiefel an und gehst raus. Du gehst ein paar Meter und stehst vor der ersten Pfütze.

Herbstblätter

Was tust du?

  • Du gehst drumherum.
  • Du nimmst Anlauf und springst mit einem großen Satz über die Pfütze.
  • Du nimmst Anlauf und springst mit einem großen Satz in die Pfütze.
  • Du gehst langsam durch die Pfütze.
  • Du gehst schnell durch die Pfütze.
  • Du drehst um und gehst nach Hause, weil da eine Pfütze ist.

Was tust du? Was würdest du deinem Kind empfehlen, das so tolle neue Gummistiefel hat? Ist die Pfütze überhaupt noch ein Hindernis? Ist die Pfütze ein Problem?

Kind springt im Pfütze

Wenn wir das Hindernis „Pfütze“ erfolgreich gemeistert haben, dann haben wir eine wertvolle Erfahrung gesammelt und es dürfen gern neue und größere Pfützen an diesem und an weiteren Tagen kommen. Genau das zeichnet uns Menschen doch aus. Wir haben es selbst in der Hand, wie wir uns entfalten und unser Leben gestalten.

Jetzt stell dir vor, dir wird ständig die Möglichkeit genommen in eine Pfütze zu springen. Es machen immer andere für dich. Vielleicht dein Chef oder ein Pfützenbeauftrager. Klar, das hat den Vorteil, dass du keine Gummistiefel brauchst. Es ist viel leichter und bequemer andere das Pfützendingens (…Problem) lösen zu lassen. Aber ist dir damit wirklich geholfen? Hast du damit etwas für dich gelernt?

Die Pfütze ist eine Chance für wertvolle Erfahrungen.

Das unsichtbare Problem

Das tägliche Zusammenleben und -arbeiten ist ein komplexes Feld mit vielen Herausforderungen, Hindernissen und unsichtbaren Pfützen. Wir Menschen sind einzigartig und vielfältig. Wir sind eine Spezies, die unglaublich lern- und anpassungsfähig ist. Wir haben im Laufe unseres Lebens gelernt, wie wir uns verhalten können und müssen, um in eine „befriedigendere Zielsituation“ zu gelangen.

In diesem Verhalten verstecken sich jedoch die unsichtbaren Probleme von anderen Menschen, die wir übergeholfen bekommen. Leider merken wir es nicht oder nur sehr selten. Warum? Weil wir es selbst auch unbewusst tun.

Die zweite Aussage aus Wikipedia trifft sehr gut das unsichtbare Problem „…um von einer unbefriedigenden Ausgangssituation in eine befriedigendere Zielsituation zu gelangen.“

Lass uns dazu zwei Beispiele näher betrachten.

Eines dieser unsichtbaren Probleme bereiten uns gern und oft digitale Tools. Mir hat mal jemand aus dem IT-Umfeld gesagt: „Das Problem sitzt vor dem Computer.“ Das klingt hart. Doch so ganz falsch ist die Aussage nicht. Wenn ich nie gelernt habe oder die Chance zum Lernen erhalten habe, wie ich mit einer Software umgehen soll, dann macht sie mir Probleme, die ich sonst nicht hätte.

Hier denke ich oft an meine Kindheit zurück. Ich habe mit Bausteinen gespielt und ausprobiert, was ich damit alles machen kann. Ich habe gelernt, wie ich die Steine stapeln muss, damit ein stabiler Turm entsteht. Ich habe wertvolle Erfahrungen gesammelt.

Warum geben wir den Menschen keine „Spielzeit“ für die digitalen Tools? Lassen wir sie spielen und Erfahrungen sammeln. Lassen wir sie in Pfützen springen. Mit diesen Erfahrungen nutzen die Menschen die Tools mit Zuversicht und Motivation. Und wenn dann mal die Software klemmt, liegt es vielleicht wirklich an der Software selbst.

Jetzt gibt es noch viel mehr unsichtbarer Probleme, die sich nicht so leicht mit „Spielzeit“ lösen lassen.

Vielleicht kennst du folgende Situation:

Dein Chef kommt zu dir und muss alles wissen, für den Fall, dass er in einer Besprechung danach gefragt wird. Ob dieser Fall eintreten wird, spielt überhaupt keine Rolle. Doch wenn der Fall eingetreten ist, dann kommt oft etwas dabei raus, was du wieder gerade bügeln musst. Somit hast du ein neues Problem, was alle Beteiligten hätten verhindern können. Warum?

Was ist für den Chef daran so schlimm, zu sagen: „Ich kann Ihnen die Informationen nicht geben. Ich habe jedoch eine tolle Kollegin, sie ist die Expertin. Zu ihr habe ich vollstes Vertrauen. Gern sage ich ihr Bescheid, dass sich bei ihnen meldet.“

Genau hier liegt das Problem. Die Ausgangssituation ist unbefriedigend, weil der Chef ein Informationsdefizit verspürt und sich nicht die Blöße vor anderen geben möchte oder auch kann. Leider gibt es wieder andere Personen, die solche Situationen ausnutzen. Das macht die Situation für den Chef noch unangenehmer. Also versorgt sich der Chef mit Informationen, um zu einer befriedigenderen Zielsituation zu gelangen. Klingt komisch, ist aber so. Wenn nun die entsprechende Frage an den Chef kommt, kann er Auskunft geben. Wer hat jetzt das echte Problem?

Viel cooler wäre es doch, wenn du einen Chef hast, der sagt: „Ich nehme sie mit in die Besprechung, egal was die anderen sagen. Sie können ihr Projekt selbst vorstellen und sich den Fragen der Zuhörenden direkt widmen.“ Das wäre souverän und fair. Das signalisiert Vertrauen in dein Können und in die Menschen, die in der Organisation arbeiten. Das fördert die Entwicklung von Kompetenzen und die Verbundenheit zum Arbeitsumfeld und dem Arbeitgeber.

Es ist aus meiner Sicht keine Schwäche, sondern eine große Stärke, es genauso zu machen.

Das sind nur zwei Beispiele aus unserer komplexen Welt des Miteinanders. Du kennst bestimmt weitere Beispiele.

Willst du mein Problem haben?

Wäre es nicht toll, wenn dir jemand diese Frage stellt? Dann kannst du entweder annehmen oder ablehnen. Doch leider stellt niemand diese Frage. Wir bekommen oft die Probleme der anderen Menschen übergeholfen oder machen es ebenso und merken es in den wenigsten Fällen.

Wäre es nicht toll, wenn wir einfach sagen könnten: „Vielen Dank, ich möchte dein Problem nicht.“ oder „Das ist mein Problem, das löse ich selbst.“ Es wäre uns allen ein Stück geholfen, wenn Menschen sich reflektieren und offen zu ihren Schwächen stehen (können und dürfen) und damit sich ihren Pfützen (Problemen) selbst stellen. Insbesondere, wenn diese Menschen die wertvolle und spannende Rolle einer Führungskraft übernommen haben.

Gute Zusammenarbeit ist keine Selbstverständlichkeit – offen und fair mit Problemen umzugehen auch nicht. Machen wir was daraus.

Du hast eine Pfütze im Weg?

Dann spring rein und genieße den wertvollen Moment.

In welche Pfütze springst du? Ich freue mich auf deinen Kommentar.

Bleib mutig.

Falk Golinsky

Bildquelle: all pictures ba pixabay.com

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